„Damit alle den Sohn ehren wie den Vater“ (Johannes 5,23)

Eine theologische Verteidigung der Göttlichkeit Christi

Die Frage nach der Göttlichkeit Jesu Christi ist eine der zentralen dogmatischen Auseinandersetzungen in der Theologiegeschichte. Seit dem 1. Jahrhundert bis heute sind sowohl innerhalb als auch außerhalb des Christentums unterschiedliche Deutungen zur Person Jesu formuliert worden. Johannes 5,23 ist eine Schlüsselstelle im Neuen Testament, die sowohl christologische Tiefe als auch kontroverses Potenzial birgt. Der Vers fordert, dass „alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“, was in einem streng monotheistischen Kontext wie dem des Judentums des 1. Jahrhunderts einer revolutionären Behauptung gleichkommt.

Der jüdisch-monotheistische Ehrenkontext

Ehre als soziales und theologisches Gut

In der antiken Welt war „Ehre“ (gr. timē, hebr. kabod) ein zentrales Konzept sozialer Ordnung. Nach Jerome H. Neyrey war sie im Mittelmeerraum ein begrenztes Gut, das nach dem Nullsummenprinzip funktionierte: Mehr Ehre für den einen bedeutete weniger für den anderen. Im religiösen Kontext Israels war Ehre untrennbar mit dem Wesen Gottes verbunden.

Philo von Alexandria schrieb:

„Gottes Ehre wird entweiht von denen, die den Sterblichen vergöttlichen“ (Ebr. 110).

Ausschließlichkeit göttlicher Ehre

Die hebräische Bibel betont die Einzigkeit Gottes hinsichtlich Verehrung:

Jesaja 42,8: „Ich bin der HERR, das ist mein Name, und ich will meine Ehre keinem andern geben.“

Exodus 34,14: „Denn du sollst keinen anderen Gott anbeten.“

Wer also göttliche Ehre empfängt, steht im Anspruch, göttlich zu sein – jede andere Interpretation wäre aus Sicht antiker Juden blasphemisch.

Exegese von Johannes 5,19–23

Aufbau des Textes

Vers 19: Der Sohn tut nur, was er den Vater tun sieht.

Vers 21: Der Sohn gibt Leben – wie der Vater.

Vers 22: Das Gericht wird vollständig dem Sohn übergeben.

Vers 23: „damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“.

Grammatikalische Besonderheiten

Die Formulierungen „hōsper … houtōs“ und „kathōs“ drücken nicht nur Ähnlichkeit, sondern qualitative Identität aus (vgl. BDAG, s.v. kathōs). Der Satzbau legt nahe, dass die Ehre Jesu derjenigen des Vaters vollständig entspricht – in Inhalt, Form und Ziel.

Der johanneische Kontext

Bereits Johannes 1,1 identifiziert Jesus mit dem Logos, der „bei Gott war und Gott war“. In Johannes 10,30 erklärt Jesus: „Ich und der Vater sind eins.“ Johannes 17,5 spricht von der vorweltlichen Herrlichkeit Christi. Diese Aussagen kulminieren in Johannes 5,23 in einem Aufruf zur göttlichen Ehrerbietung.

Theologische Implikationen: Gleichheit in Ehre = Gleichheit im Wesen

Die Relevanz der Ehre

In der Theologie Karl Barths und Jürgen Moltmanns ist Ehre ein Ausdruck göttlicher Selbstmitteilung. Wenn Jesus dieselbe Ehre wie der Vater beansprucht, ist dies keine symbolische Geste, sondern ein Ausdruck ontologischer Gleichheit.

Jesus als Richter und Lebensspender

Das Gericht Gottes war im Alten Testament nie delegierbar (vgl. Ps 75,8; Jes 33,22). Auch die Lebensspendung war ausschließlich JHWH vorbehalten (Dtn 32,39). Dass Jesus in Joh 5 beides ausführt, macht ihn zu mehr als einem Beauftragten – es macht ihn zum göttlichen Wesen selbst.

Richard Bauckham schreibt:

„Im jüdischen Monotheismus gehören Lebensspendung und Gericht untrennbar zur göttlichen Identität – wer dies ausübt, gehört zu Gott.“1

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gegenpositionen

Unitarismus

These: Die unitarische Theologie, vertreten u. a. durch Kegan Chandler und Anthony Buzzard, lehnt die Präexistenz und Göttlichkeit Jesu ab. Sie sieht in Johannes 5,23 keine Aussage über religiöse Verehrung, sondern lediglich über die Anerkennung Jesu als bevollmächtigten menschlichen Repräsentanten Gottes. Chandler argumentiert, dass der „Ehrbegriff“ hier nicht in einem kultisch-religiösen Sinn verstanden werden dürfe, sondern als Ausdruck von Zustimmung, Gehorsam oder Respekt gegenüber dem von Gott gesandten Messias.

Widerlegung:

Diese Position lässt sich auf mehreren Ebenen – exegetisch, sprachlich, kontextuell und historisch – nicht überzeugend aufrechterhalten. Eine genaue Analyse zeigt, dass Johannes 5,23 sehr wohl von religiöser Verehrung spricht und Jesus in die göttliche Sphäre erhebt.

Kontextuelle Analyse: Die Funktion von Johannes 5,23

Johannes 5,23 steht im unmittelbaren Kontext einer Reihe von Aussagen über den Sohn, die allesamt göttliche Vollmachten reflektieren:

Der Sohn tut alles, was der Vater tut (V. 19)

Der Sohn gibt Leben – ein göttliches Vorrecht (V. 21; vgl. Dtn 32,39)

Dem Sohn ist alles Gericht übergeben worden (V. 22)

Die Formulierung „damit alle den Sohn ehren“ ist nicht losgelöst vom Vorhergehenden, sondern die Zielbestimmung (gr. hina) aller vorherigen Aussagen. Der Sohn handelt in göttlicher Weise, damit er in göttlicher Weise geehrt wird.

Carson: „Wenn Jesus in 5,23 dieselbe Ehre wie der Vater verlangt, dann nur, weil er in göttlicher Funktion handelt. Alles andere wäre ein Bruch des jüdischen Monotheismus.“ D. A. Carson, The Gospel According to John (Eerdmans, 1991), S. 254–255.

Sprachliche Analyse: „Ehre“ (gr. timē) und „wie“ (gr. kathōs)

Ehre – timē

Im Neuen Testament kann das Wort timē sowohl Respekt als auch kultische Verehrung bedeuten. Doch gerade im johanneischen Kontext hat es häufig kultisch-theologische Dimensionen:

Offb 5,13: „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm gebührt Lobpreis, Ehre (timē) und Macht“ – hier ist timē unzweifelhaft göttliche Anbetung.

Joh 5,23 steht in genau dieser theologischen Sphäre.

Gleichheitsformel – kathōs

Das griechische kathōs bedeutet nicht nur „wie“ im Sinne von „ähnlich“, sondern impliziert qualitative Gleichheit in Wesen und Wirkung, besonders bei Gegenüberstellungen wie dieser.

BDAG-Lexikon (s.v. kathōs): „used to denote equivalence in manner and nature“.

Die Aussage ist nicht: „Ehrt ihn ungefähr wie den Vater“, sondern: „Ehrt ihn mit derselben Ehre, in derselben Weise, wie ihr den Vater ehrt.“

Jüdisch-monotheistischer Hintergrund: Ehre nur für Gott

Das jüdische Bekenntnis zu einem einzigen Gott (Dtn 6,4 – Schema Israel) war mit dem Ausschluss aller anderen Wesen von kultischer Verehrung verbunden.

Jes 42,8: „Ich gebe meine Ehre keinem andern.“

Philo von Alexandria: „Die Ehre Gottes wird geschmälert, wenn ein Sterblicher göttlich geehrt wird.“ (Ebr. 110)

Wenn Jesus wirklich nur ein Mensch oder Prophet wäre, dann wäre die Forderung nach gleicher Ehre Blasphemie. Die unitarische Sicht widerspricht hier sowohl dem jüdischen wie dem neutestamentlichen Kontext.

Richard Bauckham: „Die Forderung nach Ehre für Jesus, wie für Gott, ist nur möglich, wenn Jesus Teil der göttlichen Identität ist.“Richard Bauckham, Jesus and the God of Israel (Eerdmans, 2008), S. 28.

Vergleich mit biblischen Repräsentanten

Unitarier verweisen oft darauf, dass alttestamentliche Figuren – etwa Mose oder Engel – im Namen Gottes gehandelt hätten, ohne selbst Gott zu sein. Doch die Ehre, die sie erhielten, war immer begrenzt und vermittelt – niemals gleichrangig mit der Ehre Gottes:

Mose wurde nicht angebetet. Engel weigerten sich ausdrücklich, Verehrung anzunehmen (vgl. Offb 22,8–9). Apostel wie Paulus zerrissen ihre Kleider, wenn man sie göttlich verehren wollte (Apg 14,15).

Jesus hingegen akzeptiert in Joh 5,23 dieselbe Ehre wie der Vater – ohne jede Einschränkung.

Zeugnis der frühen Christen

Schon die frühesten Christen beteten Jesus an. Plinius der Jüngere berichtet 112 n. Chr. über Christen, die „Christus wie einem Gott Lieder sangen“ (quasi deo). (Plinius d. J., Epistulae 10.96)

Ignatius von Antiochien (ca. 110 n. Chr.):

„Jesus Christus, unser Gott“ (Epheser 1)

Diese Praxis ist nur erklärbar, wenn Johannes 5,23 im Sinne von religiöser Anbetung verstanden wurde – nicht bloßer Respekt.

Theologischer Fehlschluss der Unitarier

Die unitarische Position macht einen kategorialen Fehler, indem sie das Wesen Christi nur funktional und nicht ontologisch bestimmt. Sie reduziert Christologie auf Sendung und Auftrag, ohne die ontologische Natur Jesu zu berücksichtigen.

Stephen Wellum: „Es genügt nicht, Jesu Werk zu betrachten – man muss sein Wesen erfassen, um seine Würde zu verstehen.“ Stephen Wellum, God the Son Incarnate (Crossway, 2016), S. 152.

Zeugen Jehovas

These: Jesus ist ein erschaffener Engel (Michael), der Gottes Ehre widerspiegelt.

Widerlegung:

Jesaja 45,23: „Vor mir wird jedes Knie sich beugen.“ – in Phil 2,10 wird dies auf Jesus angewandt.

Offenbarung 5,13: Das Lamm erhält dieselbe Anbetung wie der auf dem Thron.

Gerichtsvollmacht im AT ist nicht delegierbar – Jesus besitzt sie vollständig.

Robert M. Bowman stellt klar:

„Wenn Jesus Gerichtsvollmacht hat, ist er nicht bloß bevollmächtigt – er besitzt göttliche Autorität.“

Islam

These: Jesu Abhängigkeit vom Vater beweise seine Unterordnung.

Widerlegung:

Joh 5,19 spricht von funktionaler, nicht ontologischer Unterordnung.

Die Inkarnation bedeutet freiwillige Selbsterniedrigung (vgl. Phil 2,6–8).

Die frühe Kirche (Ignatius von Antiochien, Irenäus) sah in solchen Aussagen keinen Widerspruch zur Gottheit Christi, sondern Ausdruck der Heilsökonomie.

Christologische Synthese: Der Sohn als Gegenstand göttlicher Ehre

Verbindung von Ehre, Name und Werk

Ehre: identisch mit Gottes Ehre (Joh 5,23)

Name: „Sohn Gottes“ – im NT kein bloßer Titel, sondern Ausdruck von Wesen

Werk: Gericht, Auferweckung, Erlösung

Präexistenz und Verherrlichung

Joh 17,5: Der Sohn hatte vor aller Schöpfung Herrlichkeit beim Vater.

Kol 1,15–20: Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes, durch den alles geschaffen wurde.

Larry Hurtado nennt die frühe Jesusverehrung:

„eine explosive Neuerung im jüdischen Monotheismus, die nur durch Jesu göttliche Identität erklärbar ist.“2

Warum Johannes 5,23 die Göttlichkeit Jesu belegt

Johannes 5,23 ist ein theologischer Brennpunkt: Die Aufforderung, Jesus so zu ehren wie den Vater, macht nur Sinn, wenn Jesus wahrer Gott ist. In einem jüdisch-monotheistischen Weltbild ist es ausgeschlossen, ein geschaffenes Wesen so zu ehren wie den Schöpfer.

Theologische Schlussfolgerung

Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht.

Göttliche Ehre, göttliches Gericht, göttliches Leben – all das wird dem Sohn gegeben.

Johannes 5,23 ist keine Option, sondern ein Aufruf zur Anbetung.

Literaturverzeichnis

Richard Bauckham, Jesus and the God of Israel (Eerdmans, 2008).

Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ (Eerdmans, 2003).

Jerome H. Neyrey, “Despising the Shame of the Cross,” Semeia 69 (1996): 117.

D. A. Carson, The Gospel According to John (Eerdmans, 1991).

Colin G. Kruse, John: An Introduction and Commentary (IVP, 2017).

Peter Sanlon, in: Irons et al., The Son of God: Three Views (Wipf & Stock, 2015).

Robert M. Bowman & J. E. Komoszewski, Putting Jesus in His Place (Kregel, 2007).

Shabir Ally, Is Jesus God? The Bible Says No (Toronto, 2007).

Anthony Buzzard, Jesus Was Not a Trinitarian (Restoration Fellowship, 2007).

Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/1.

Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (Chr. Kaiser, 1972).



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