Entrückung nach der Trübsal – Eine biblisch-exegetische Verteidigung zu Matthäus 24; 1. Thessalonicher 4 & 5

Einleitung

Die Frage nach dem Zeitpunkt der Entrückung der Gemeinde Jesu ist eine der meistdiskutierten Fragen in der Endzeittheologie. Während alle bibeltreuen Christen daran festhalten, dass Jesus Christus wiederkommen wird und seine Gemeinde mit sich vereinen wird (vgl. 1. Thess 4,17; Joh 14,3), herrscht Uneinigkeit darüber, wann dieses Ereignis stattfindet – insbesondere im Verhältnis zur sogenannten Großen Trübsal (griech. θλῖψις μεγάλη, Matthäus 24,21).

In weiten Teilen der evangelikalen Welt, vor allem im nordamerikanischen Raum, ist die Vorstellung populär geworden, dass die Gemeinde vor Beginn dieser Trübsalszeit in den Himmel entrückt wird – eine Lehre, die als Prätribulationismus bezeichnet wird. Diese Lehre ist untrennbar mit dem Dispensationalismus verbunden, einem theologischen System, das im 19. Jahrhundert vor allem durch John Nelson Darby und später durch die Scofield Reference Bible weite Verbreitung fand. Nach dieser Sichtweise wird die Gemeinde Jesu plötzlich und geheim „weggenommen“, bevor Gottes Gerichte über die Welt hereinbrechen.

Doch diese populäre Lehre steht zunehmend in der Kritik – nicht nur aus exegetischen Gründen, sondern auch aufgrund ihrer geschichtlichen Neuartigkeit. Biblisch-wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die frühen Christen – von den Kirchenvätern bis in die Reformationszeit – keine prätribulationistische Entrückung kannten. Vielmehr war die Überzeugung verbreitet, dass die Gemeinde durch die Trübsal hindurch hindurchgehen werde, um am Ende durch die Wiederkunft Jesu erlöst zu werden. Diese Position wird heute als Posttribulationismus bezeichnet.

Diese Sicht ist nicht nur älter, sondern in ihrer exegetischen Basis tiefer im neutestamentlichen Text verankert. Sie nimmt Jesu Worte in Matthäus 24, die Briefe des Paulus (besonders 1. und 2. Thessalonicher), die Johannesoffenbarung sowie das alttestamentliche Hintergrundmaterial (z. B. Daniel 7–12) ernst und stellt sie in einen kohärenten heilsgeschichtlichen Zusammenhang.

Zudem birgt die posttribulationistische Sicht auch geistliche Konsequenzen. Wenn Christen mit einer Entrückung vor aller Not rechnen, besteht die Gefahr einer falschen Hoffnung, die auf eine Flucht vor Bedrängnis zielt, anstatt auf eine standhafte Treue inmitten der Trübsal. Das Neue Testament hingegen zeichnet ein klares Bild: Die Gemeinde wird nicht vor allem Leid bewahrt, sondern sie wird inmitten von Bedrängnis bewahrt und geheiligt. Die Hoffnung liegt nicht in der Vermeidung der Trübsal, sondern im sicheren Kommen Christi am Ende derselben.

In diesem Artikel wird auf exegetischer, historischer und theologischer Grundlage dargelegt, warum die posttribulationistische Sichtweise der Entrückung – also nach der Trübsal, bei der sichtbaren Wiederkunft Jesu – biblisch fundierter, theologisch stimmiger und historisch belegbarer ist als das prätribulationistische Modell. Dabei werden zentrale Bibelstellen betrachtet und die Argumente maßgeblicher Vertreter dieser Sicht wie Robert H. Gundry, Sam Shamoun, George Eldon Ladd und andere dargelegt.

Ziel dieses Beitrags ist es, zu einem schriftgemäßen, nüchternen und glaubensstärkenden Verständnis der Wiederkunft Jesu beizutragen – nicht spekulativ, sondern bibeltreu und kirchengeschichtlich verantwortet.

Exegetische Hauptargumente für die Entrückung nach der Trübsal

Matthäus 24,29–31 – Die Sammlung der Auserwählten nach der Trübsal

„Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden, und der Mond wird seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden.

Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen…

Und er wird seine Engel aussenden mit starkem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten versammeln von den vier Winden her, von einem Ende des Himmels bis zum anderen.“

(Matthäus 24,29–31, LUT/ELB)

Der eindeutige zeitliche Marker: „Sogleich nach der Drangsal“

Das griechische Wort:

„εὐθέως δὲ μετὰ τὴν θλῖψιν τῶν ἡμερῶν ἐκείνων“

= eutheōs de meta tēn thlipsin tōn hēmerōn ekeinōn

→ „Unmittelbar nach der Drangsal jener Tage“

„εὐθέως“ (sofort, sogleich): Dieser Ausdruck ist zeitlich eindeutig und lässt kein Einschieben einer zusätzlichen Phase zu. Es gibt keinen biblischen Hinweis, dass zwischen „Drangsal“ und „Versammlung der Auserwählten“ ein weiterer Zeitraum (z. B. 7 Jahre) liegt.

„μετὰ“ = „nach“ – grammatikalisch eindeutig post-Trübsal, nicht „während“ oder „vor“.

Das widerlegt die prätribulationistische These, Jesus spreche hier von einem anderen Ereignis als der Entrückung (z. B. nur von Israel oder einer Sammlung in Kanaan). Die Zeitform und Aussage sind global, universell und für die Auserwählten gedacht.

Die Sammlung der „Auserwählten“ – Wer ist gemeint?

griechisch: τοὺς ἐκλεκτούς (tous eklektous) – „die Auserwählten“

Das Wort „ἐκλεκτοί“ wird im NT überwiegend auf die Gemeinde Jesu angewendet:

– Kolosser 3,12 – „Zieht nun an als Auserwählte Gottes…“

– Römer 8,33 – „Wer wird gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben?“

– Titus 1,1, 1. Petrus 2,9

Keine neutestamentliche Grundlage, die Auserwählten auf ethnisch-nationales Israel zu reduzieren.

Prätribulationalisten (z. B. John MacArthur, Tim LaHaye) behaupten, dass „die Auserwählten“ hier nicht die Gemeinde, sondern überlebende Juden in der Trübsal seien. Doch diese Trennung ist theologisch künstlich und textlich unbegründet. Jesus spricht hier in einer globalen Perspektive, nicht in einer dispensationellen Unterscheidung.

Die Parallele zu 1. Thessalonicher 4,15–17 – Terminologische und strukturelle Verbindung

1. Thess 4,16–17:

„Der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes herabkommen vom Himmel… Und wir… werden entrückt werden in Wolken, dem Herrn entgegen…“

Vergleichspunkte mit Matthäus 24:

Matthäus 24,30–31: Menschensohn kommt vom Himmel -> 1. Thess 4,16–17: Herr kommt herab vom Himmel

Engel werden ausgesandt -> Stimme des Erzengels

Posaunenschall -> Posaune Gottes

Sammlung der Auserwählten -> Entrückung der Gläubigen

Weltweites Ereignis -> Zusammenkunft „in der Luft“

Robert Gundry argumentiert:

„Diese Parallelen sind nicht zufällig – sie beschreiben dasselbe Ereignis aus unterschiedlicher Perspektive. Die Sammlung der Auserwählten ist die Entrückung.“

(First the Antichrist, Kap. 4)

Widerlegung prätribulationistischer Gegenargumente

Argument: „Matthäus 24 ist für Israel, nicht die Gemeinde.“

Diese Annahme beruht auf dispensationalistischen Unterscheidungen, die nicht im Text selbst vorhanden sind. Jesus spricht zu seinen Jüngern, den Repräsentanten der späteren Gemeinde. Kein Hinweis im Text auf einen Wechsel zu einem „anderen Volk Gottes“ oder „anderen Heilsplan“.

Argument: „Die Entrückung ist geheim, hier ist es sichtbar.“

Richtig: Matthäus 24 ist sichtbar – „wie der Blitz“ (Vers 27). Doch nirgendwo im NT wird die Entrückung als unsichtbares Ereignis beschrieben. Auch 1. Thess 4 spricht von „Zuruf“, „Stimme“, „Posaune“ – alles laute, öffentliche Zeichen.

Sam Shamoun:

 „The ‘secret rapture’ is nowhere taught. Every biblical picture of Christ’s coming is loud and cosmic.“

Argument: „Die Entrückung ist im Himmel, hier auf der Erde.“

Auch das ist eine falsche Dichotomie: In 1. Thess 4 gehen die Gläubigen dem Herrn entgegen („εἰς ἀπάντησιν“ – eis apantēsin) – das ist ein technischer Begriff aus der Antike: ➤ Er bedeutet: eine Delegation geht dem König entgegen, um ihn zu begleiten, nicht um mit ihm wegzugehen. → Vgl. Matthäus 25,6; Apostelgeschichte 28,15

Die Gemeinde wird entrückt, um Jesus zu empfangen, nicht um für Jahre im Himmel zu bleiben.

Theologische Folgerung

Matthäus 24,29–31 bildet einen Schlüsseltext für eine biblische Eschatologie, die:

das Leiden der Gemeinde nicht verleugnet, die Einheit der Wiederkunft Christi bewahrt, und die Hoffnung nicht auf Flucht, sondern auf Standhaftigkeit und Erlösung in Bedrängnis gründet.

1. Thessalonicher 4,13–17 und 5,1–3 – Eine einheitliche Eschatologie ohne Entrückungstrennung

Kontext: Der Trost über Verstorbene und die Hoffnung auf Jesu Wiederkunft

Der Abschnitt 1. Thess 4,13–18 bildet eine der zentralsten Aussagen des Neuen Testaments über die Entrückung. Paulus schreibt, um Sorge unter Christen über verstorbene Glaubensgeschwister zu zerstreuen: Werden sie den kommenden Herrn verpassen?

Seine Antwort ist eindeutig: Nein – die Toten in Christus werden zuerst auferstehen, und wir, die leben, werden gemeinsam mit ihnen dem Herrn entgegengeführt werden.

Griechisch-exegetische Analyse von 1. Thess 4,16–17

Vers 16–17 (griechisch–deutsch):

ὅτι αὐτὸς ὁ κύριος ἐν κελεύσματι, ἐν φωνῇ ἀρχαγγέλου, καὶ ἐν σάλπιγγι θεοῦ, καταβήσεται ἀπ᾽ οὐρανοῦ,

„Denn der Herr selbst wird beim Befehlsruf, bei der Stimme des Erzengels und bei der Posaune Gottes vom Himmel herabkommen…“

κελεύσματι (keleusmati) – „lauter Befehl, Kommando“ – ein militärischer oder königlicher Aufruf, öffentlich, autoritativ, nicht geheim.

φωνῇ ἀρχαγγέλου (phōnē archangelou) – die „Stimme des Erzengels“, keine stille Erscheinung, sondern himmlische Lautverkündigung.

σάλπιγγι θεοῦ (salpingi theou) – „Posaune Gottes“ – biblisch stets ein eschatologisches Signal, etwa bei Offenbarung 11,15.

Diese Sprache schließt die Vorstellung einer „geheimen Entrückung“ aus. Es handelt sich um ein kosmisches, öffentliches Ereignis, das mit der sichtbaren Wiederkunft Jesu identisch ist.

Die Wendung „entrückt werden“ – ἁρπαγησόμεθα

„Dann werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zusammen mit ihnen entrückt werden (ἁρπαγησόμεθα) in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft“ (V. 17)

ἁρπαγησόμεθα (harpagēsometha) – Passiv von ἁρπάζω – „plötzlich ergriffen/weggenommen werden“

Das Wort hat die Bedeutung von Kraft, Unvermeidlichkeit und auch Plötzlichkeit, nicht Heimlichkeit.

Vgl. dasselbe Verb in Apostelgeschichte 8,39 (Philippus wird vom Geist entrückt) – dort ebenfalls kein Hinweis auf Geheimhaltung, sondern auf souveräne göttliche Handlung.

εἰς ἀπάντησιν τοῦ κυρίου – „dem Herrn entgegen“:

ἀπάντησις (apantēsis) – ein technischer Begriff aus der griechisch-römischen Antike: Die Bewohner einer Stadt gingen einem siegreichen König entgegen, um ihn zu begleiten, nicht um mit ihm wegzugehen.

Das gleiche Konzept erscheint in Matthäus 25,6 (Brautjungfrauen gehen dem Bräutigam entgegen) und Apg 28,15 (Paulus wird von Brüdern empfangen).

Auch sprachlich gibt es keinen Hinweis, dass die Gläubigen „weggenommen“ und dann für Jahre im Himmel versteckt bleiben. Vielmehr geht es um Empfang und Begleitung des kommenden Herrn zur Erde.

Fortführung in Kapitel 5,1–3: Der „Tag des Herrn“

Paulus fährt direkt fort:

„Was aber die Zeiten und Zeitpunkte betrifft… der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“

(1 Thess 5,1–2)

ὁ ἡμέρα κυρίου (ho hēmera kyriou) – der „Tag des Herrn“

Dieser Ausdruck bezeichnet im AT wie NT einen eschatologischen Tag, an dem Gottes Gericht und Rettung offenbar wird (vgl. Joel 3; Jes 13; Amos 5; Mal 3; 2 Thess 2,2).

Es handelt sich nicht um einen anderen Tag nach der Entrückung, sondern um denselben Tag, der eben in 1 Thess 4,15–17 beschrieben wurde.

Es gibt keine textliche Trennung zwischen „Entrückung“ und „Tag des Herrn“. Das eine folgt dem anderen nicht zeitlich, sondern erklärt das gleiche Ereignis aus zwei Blickwinkeln:

– In 4,13–17: Trost für Gläubige

– In 5,1–3: Warnung für Ungläubige

Die Reaktion der Menschen – Zwei unterschiedliche Perspektiven

„Wenn sie sagen werden: Friede und Sicherheit! Dann wird sie das Verderben plötzlich überfallen…“

(1 Thess 5,3)

Für die Ungläubigen: der Tag kommt überraschend (ὡς κλέπτης – wie ein Dieb).

Für die Gläubigen: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass euch dieser Tag wie ein Dieb überfallen könnte“ (V. 4)

Die Vorstellung einer plötzlichen Entrückung ohne Vorankündigung trifft nicht die Gläubigen. Sie sind wachsam, nicht überrascht. Die „Dieb-im-Nacht“-Metapher betrifft ausschließlich die Welt, nicht die Gemeinde.

Theologische Einheit: Kein Zwei-Phasen-Modell

Viele Dispensationalisten (z. B. Walvoord, Ryrie) lehren eine „zweistufige“ Wiederkunft:

1. Geheime Entrückung vor der Trübsal 2. Sichtbare Wiederkunft am Ende der Trübsal

Doch der Text von 1. Thess 4–5 kennt nur ein zusammenhängendes Ereignis. Es gibt keine Anzeichen, dass die Entrückung und der „Tag des Herrn“ zeitlich oder theologisch voneinander getrennt wären.

Sam Shamoun bringt es treffend auf den Punkt:

„It’s one day, one return – not a split between a secret escape and a later coming. It’s visible, loud, cosmic, and final.“

Die Analyse von 1. Thess 4,13–5,3 zeigt:

Die Entrückung ist ein öffentliches, akustisch wahrnehmbares Ereignis im Rahmen der sichtbaren Wiederkunft Christi. Der „Tag des Herrn“ folgt nicht auf die Entrückung, sondern ist dasselbe Ereignis, aus der Perspektive der Ungläubigen. Die Struktur des Textes spricht gegen eine prätribulationistische Sicht. Griechische Schlüsselbegriffe wie κελευσμα, ἀπάντησις, ἁρπαγησόμεθα, und ἡμέρα κυρίου bestätigen die Einheit des Geschehens.



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