„Was aber das Kommen unseres Herrn Jesus Christus und unsere Vereinigung mit ihm betrifft, bitten wir euch, Brüder, dass ihr euch nicht so schnell erschüttern noch in Schrecken jagen lasst … als ob der Tag des Herrn schon da sei.
Lasst euch von niemandem in irgendeiner Weise täuschen! Denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall kommt und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart wird, der Sohn des Verderbens.“
(2. Thessalonicher 2,1–3)
Struktur und Zusammenhang des Textes
Thema: Die Wiederkunft Jesu und unsere Vereinigung mit ihm
Der Text beginnt mit dem griechischen Ausdruck:
Ὑπὲρ τῆς παρουσίας τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ ἡμῶν ἐπισυναγωγῆς ἐπ᾽ αὐτόν
→ „Bezüglich der Parusie unseres Herrn Jesus Christus und unserer Versammlung zu ihm hin“
παρουσία (parousia) – ein Begriff, der im NT konsequent für die sichtbare Wiederkunft Christi verwendet wird (vgl. Mt 24,27; 1. Thess 3,13; Jak 5,7–8).
ἐπισυναγωγή (episynagōgē) – „Versammlung, Sammlung“, wie in Matthäus 24,31: „Und er wird seine Auserwählten sammeln“ (episynaxei).
Deutliches sprachliches Bindeglied zwischen dieser Stelle und der bekannten Entrückungsstelle in 1. Thess 4,17.
Es geht nicht um ein anderes Ereignis als die Entrückung – Paulus spricht von derselben finalen Wiederkunft Christi, bei der alle Gläubigen vereint werden.
Chronologischer Ablauf laut Vers 3
„Denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn…“
griechisch: ἐὰν μὴ ἔλθῃ ἡ ἀποστασία πρῶτον → „es sei denn, dass zuerst der Abfall kommt“
Danach: „und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart wird“
Die Reihenfolge ist eindeutig:
1. ἡ ἀποστασία (apostasia) – der „Abfall“ Begriff kann religiösen oder moralisch-politischen Abfall meinen; im Kontext: Abfall vom wahren Glauben, möglicherweise auch institutioneller Glaubensverrat (vgl. Mt 24,10–12).
Vgl. Daniel 11,30–32: „Viele werden sich vom heiligen Bund abwenden…“ – eine Vorhersage, die viele frühjüdische wie christliche Exegeten auf die Endzeit bezogen.
2. ὁ ἄνθρωπος τῆς ἀνομίας – der Mensch der Gesetzlosigkeit = Antichrist
Vgl. Daniel 7,25; 8,23–25; 11,36–39 – der endzeitliche Widersacher Gottes, der sich selbst als Gott ausgibt.
Johannes nennt ihn später „Antichrist“ (1 Joh 2,18).
3. Dann – implizit: kommt der Tag des Herrn / die Wiederkunft Christi
Robert Gundry kommentiert:
„Wenn Paulus irgendwo die Lehre einer Entrückung vor dem Antichristen hätte einbauen wollen, wäre es hier. Aber er nennt stattdessen ganz klar zwei Vorzeichen, die eintreten müssen – und keines davon ist die Entrückung.“
(First the Antichrist, Kap. 6)
Gegenargument: „Der Abfall bedeutet die Entrückung“?
Einige Prätribulationisten (z. B. Kenneth Wuest, später auch einige Dispensationalisten) behaupten, „ἀποστασία“ (apostasia) könne auch „Wegnahme“ oder „Hinwegnahme“ der Gemeinde bedeuten, also auf die Entrückung selbst hinweisen.
Diese Behauptung ist exegetisch äußerst schwach:
Das Wort ἀποστασία bedeutet im klassischen und biblischen Griechisch
immer Abfall, Rebellion oder Abkehr: LXX: Josua 22,22 („Rebellion gegen Gott“)
Apg 21,21: „Du lehrst den Abfall von Mose“
Kein antiker oder neutestamentlicher Autor verwendet „apostasia“ im Sinne einer körperlichen Wegnahme.
Douglas Moo schreibt dazu:
„Es gibt keine sprachliche Grundlage, ἀποστασία als physische Entrückung zu verstehen. Die Bedeutung ist klar: Glaubensabfall, nicht Himmelfahrt.“
(The Rapture Question Revisited, 2007)
Alttestamentliche Verankerung: Der „Gesetzlose“ und das Endgericht
Der Antichrist – der „Mensch der Gesetzlosigkeit“ – erfüllt alttestamentliche Prophetien über den gottlosen Endzeit-Machthaber:
Daniel 7,25: „Er wird freche Worte gegen den Höchsten reden…“
Daniel 11,36–37: „Er wird tun, was er will, und sich erheben über jeden Gott.“
Jesaja 14,13–14 (Luzifer-Motiv)
Diese Texte zeigen: Der Antichrist erscheint vor dem Gericht, also vor der Wiederkunft Christi.
2. Thess 2,4 greift das auf:
„Er setzt sich in den Tempel Gottes und gibt vor, er sei Gott“ – eine endzeitliche Gotteslästerung.
Ben Witherington III dazu:
„Paulus greift bewusst die Daniel-Tradition auf – der ‘Gesetzlose’ steht vor dem Tag des Herrn. Eine Entrückung vor seinem Auftreten ist mit diesem apokalyptischen Muster unvereinbar.“
(Jesus, Paul and the End of the World, 1992)
Der „Tag des Herrn“ – Einheitlich verstanden
Paulus spricht klar von „dem Tag des Herrn“ (ἡ ἡμέρα τοῦ κυρίου) – derselbe Ausdruck wie in den Propheten (z. B. Joel 2,11; Amos 5,18; Jes 13,6).
Im NT ist dieser Tag:
der Tag von Jesu Wiederkunft (2 Petr 3,10)
der Tag von Gericht und Erlösung zugleich
der Tag, an dem die Entrückung (Versammlung) stattfindet (vgl. 1 Thess 4,13–5,3 – direkt verknüpft)
Paulus behandelt Wiederkunft, Entrückung, Offenbarung des Antichristen und Gericht als aufeinanderfolgende oder sogar ineinandergreifende Ereignisse, nicht als getrennte Phasen.
Keine Entrückung vor dem Antichristen
Paulus beschreibt eine einheitliche Wiederkunft Christi, bei der die Gemeinde zu ihm versammelt wird. Zwei klare Vorzeichen müssen diesem Tag vorausgehen: Glaubensabfall und Offenbarung des Antichristen. Es gibt keinen Hinweis, dass eine Entrückung diese Ereignisse umgehen würde – im Gegenteil: sie setzen sie voraus.
George Eldon Ladd bringt es auf den Punkt:
„Die Schrift warnt vor dem Antichristen – nicht, damit wir ihn verpassen, sondern damit wir auf ihn vorbereitet sind.“
(The Blessed Hope, S. 119)
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