„Ein für alle Mal“ – Die Überbietung des alttestamentlichen Kultes im Opfer Christi (Hebräer 9,1–28)

Struktur und Thematik des Hebräerbriefs

Der Hebräerbrief stellt eine der theologisch tiefgründigsten Schriften des Neuen Testaments dar. Seine Hauptthematik ist die Überlegenheit Christi in jeder Hinsicht gegenüber den Institutionen und Figuren des Alten Bundes. Besonders deutlich wird dies in der Darstellung Jesu als Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (vgl. Hebr 5,6.10; 7,1–28) und in der Gegenüberstellung von alttestamentlichem Opferkult und dem einzigartigen Opfer Christi (Hebr 9–10). Die Perikope Hebräer 9,1–10 fungiert als theologischer Brückentext: Sie führt vom kultischen System des Alten Bundes (vv. 1–5) über eine hermeneutische Reflexion seiner Begrenztheit (vv. 6–7) hin zur eschatologischen Bedeutung dieses Systems als „Gleichnis für die gegenwärtige Zeit“ (v. 9).

Exegetische Analyse von Hebräer 9,1–10

Vers 1: Die „erste“ Ordnung und das Heiligtum

Der Text beginnt mit der Feststellung: „Zwar hatte auch der erste Bund Satzungen für den Gottesdienst und ein irdisches Heiligtum“ (Hebr 9,1). Der Begriff „erste“ (griech. prōtē) weist auf eine Heilsgeschichte hin, in der der Alte Bund nicht verworfen, sondern als erste Stufe in einer göttlich geführten Geschichte verstanden wird (vgl. Ratzinger, 2000, S. 134). Das „irdische Heiligtum“ (kosmikon hagion) verweist auf die Materialität und Vorläufigkeit der alttestamentlichen Kultpraxis.

Verse 2–5: Beschreibung des Heiligtums

Der Verfasser beschreibt nun die Ausstattung der Stiftshütte in zwei Räumen: das Heilige (mit Leuchter, Tisch und Schaubroten) und das Allerheiligste (mit der Bundeslade, dem goldenen Räucheraltar und dem Gnadenstuhl). Hier fällt eine gewisse Unschärfe auf, da der Räucheraltar eigentlich im Heiligen stand (Ex 30,1–6). F. F. Bruce (1990, S. 204) deutet dies als Hinweis auf die kultische Funktion des Altars, der eng mit dem Jom-Kippur-Ritus verbunden war (vgl. Lev 16,12–13).

Die Bundeslade als Ort der Bundesgegenwart Gottes, überdeckt vom Gnadenstuhl mit den Cherubim, symbolisiert den himmlischen Thron Gottes. John Behr sieht hierin eine „ikonische Präsenz der göttlichen Herrlichkeit“, die im Neuen Bund in der Fleischwerdung Christi offenbar wird (Behr, 2004, S. 76).

Verse 6–7: Der kultische Zugang und seine Begrenzung

Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr das Allerheiligste betreten, „nicht ohne Blut“ (v. 7). Dies unterstreicht die unvollkommene Versöhnungsstruktur des alttestamentlichen Systems: Sühne ist notwendig, aber nur temporär und unvollständig. William Lane weist darauf hin, dass diese kultische Struktur eine „soteriologische Spannung“ beinhaltet, die auf eine endgültige Lösung drängt (Lane, 1991, S. 233).

Verse 8–10: Die hermeneutische Deutung

Die Aussage in Vers 8 ist von zentraler Bedeutung: Der Heilige Geist zeige durch diese Ordnung, dass der Weg ins wahre Heiligtum noch nicht offenbart sei. Hier wird die temporäre Natur des alttestamentlichen Kults betont. Die Begriffe „Gleichnis“ (parabolē, v. 9) und „Äußeres“ (diorthōsis, v. 10) machen deutlich, dass diese Kultpraxis nicht Selbstzweck, sondern heilsgeschichtlich-symbolische Vorausdeutung ist. Scott Hahn interpretiert die Formulierung „bis zur Zeit der rechten Ordnung“ als Hinweis auf Christus, der die wahre liturgische Ordnung inauguriert (Hahn, 2009, S. 149).

Kultische Elemente und ihre symbolische Bedeutung

Die Stiftshütte

Die Stiftshütte (hebr. mishkan) fungiert im Alten Testament als „Wohnstätte“ Gottes unter den Menschen. Sie ist das Zentrum der Bundesbeziehung. Alexander Schmemann hebt hervor, dass die Stiftshütte die liturgische Mitte Israels war, jedoch auf das wahre Heiligtum im Himmel hinwies (Schmemann, 1973, S. 91).

Schaubrottisch und Leuchter

Die Schaubrote (lehem ha-panim) stehen für das zwölfstämmige Israel in der Gegenwart Gottes. Der Leuchter (menorah) symbolisiert das Licht der göttlichen Weisung. Beide Elemente sind Ausdruck der priesterlichen Stellvertretung Israels vor Gott.

Die Bundeslade und der Gnadenstuhl

Die Lade enthält die Gesetzestafeln, Aarons Stab und das Manna – Zeichen des Bundes, der priesterlichen Legitimation und der göttlichen Versorgung. Der Gnadenstuhl (hilastērion) stellt den Ort der Sühne und Gnade dar. N. T. Wright sieht hierin einen Vorverweis auf das Kreuz Christi als neuen Gnadenort (Wright, 2003, S. 149).

Neutestamentliche Parallelen

Die Parallelen zur neutestamentlichen Theologie sind vielfältig:

Johannes 1,14: „Und das Wort wurde Fleisch und zeltete (eskēnōsen) unter uns“ – Christus als die neue Stiftshütte.

Matthäus 27,51: Der Riss des Vorhangs im Tempel symbolisiert den Zugang zum Allerheiligsten durch das Kreuz.

Offenbarung 21,3: „Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen“ – eschatologische Erfüllung des Bildes der Stiftshütte.

Hebräer 10,19–22: Der Zugang zum Heiligtum ist nun frei durch das Blut Jesu – das „Fleisch des Vorhangs“.

Christologische Erfüllung des alttestamentlichen Kults

Der Hebräerbrief sieht in Christus nicht nur eine Erfüllung, sondern eine Überbietung des alttestamentlichen Systems. Er ist der Hohepriester (Hebr 4,14), das wahre Opfer (Hebr 9,12), das vollkommene Heiligtum (Hebr 9,11) und der neue Weg zum Vater (Hebr 10,20).

John Owen beschreibt Christus als „the substance of all the shadows“ – als die Wirklichkeit, auf die das ganze Kultsystem hinweist (Owen, 1853, Bd. 6, S. 413). Joseph Ratzinger formuliert: „Im Kreuz Jesu wird der alte Tempel überboten, weil Gott sich nun nicht mehr in einem Raum, sondern in der Person Jesu Christi zu erkennen gibt“ (Ratzinger, 2000, S. 152).

Schlussfolgerung

Hebräer 9,1–10 entfaltet eine theologisch dichte und kultisch-symbolisch aufgeladene Darstellung des alttestamentlichen Heiligtums als Vorabbild der Wirklichkeit in Christus. Die Stiftshütte und ihre Einrichtungen sind nicht bloß historische Relikte, sondern Typologien der eschatologischen Wirklichkeit, die in Christus ihren Erfüllungspunkt finden. Die Begrenztheit des alten Kults verweist auf die Notwendigkeit eines neuen, endgültigen Mittlers.

Für die Theologie des Neuen Bundes ist dieser Text zentral: Er betont die Unmittelbarkeit des Zugangs zu Gott durch Christus, die Überbietung aller rituellen Ordnungen im Kreuz und die eschatologische Neuausrichtung der Anbetung. Für die Kirche heute bedeutet dies, Liturgie und Sakrament nicht als Wiederholung des Alten, sondern als Teilhabe am vollendeten Werk Christi zu verstehen.

Theologische Überleitung von Hebräer 9,1–10 zu 9,11–22

Die Verse Hebräer 9,1–10 führten die Leser in die kultische Welt des Alten Bundes ein und legten durch die detaillierte Beschreibung des irdischen Heiligtums und seiner Begrenzungen das Fundament für ein tiefgreifendes Verständnis des neutestamentlichen Priestertums Christi. Vers 10 schließt mit dem Hinweis, dass all diese Dinge „nur bis zu der Zeit einer besseren Ordnung“ galten (kairou diorthōseōs). Mit Vers 11 beginnt die eigentliche Entfaltung dieser neuen, „besseren Ordnung“, in der Christus als Hoherpriester des himmlischen Heiligtums eintritt und durch sein eigenes Blut ein für alle Mal Sühne bewirkt. Diese theologische Wende markiert den hermeneutischen Schlüssel zur Interpretation der gesamten Heilsgeschichte aus christlicher Perspektive.

Vers-für-Vers-Auslegung von Hebräer 9,11–22

Vers 11: Christus als Hoherpriester des zukünftigen Heils

„Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der Güter, die da sind…“ (Christos de paragenomenos archiereus tōn genomenōn agathōn). Der Hohepriester wird hier nicht mehr als Teil eines irdisch-institutionellen Systems verstanden, sondern als Mittler einer neuen Heilsordnung. John Owen betont, dass Christus nicht lediglich eine Verbesserung, sondern eine völlige Transformation des priesterlichen Amtes bewirkt (Owen, Works, Bd. 6, 1853, S. 440). Die „Güter“ (ἀγαθῶν) sind die eschatologischen Wirklichkeiten, die im Gegensatz zu den „Schatten“ (Hebr 8,5) des alten Systems stehen.

Vers 12: Einmaliges Eintreten mit eigenem Blut

Im Zentrum steht das einmalige Eintreten Christi „nicht mit fremdem Blut, sondern mit seinem eigenen“. Die Gegenüberstellung des wiederholten Tieropfers mit dem einmaligen Opfer Christi unterstreicht dessen Einzigartigkeit. F. F. Bruce bezeichnet dieses Ereignis als „decisive act of redemption accomplished in the heavenly realm“ (Bruce, Hebrews, 1990, S. 209). Der Ausdruck „ewige Erlösung“ (aiōnian lytrōsin) verbindet die Sprache des Exodus mit der Eschatologie (vgl. Ex 6,6; Lk 1,68).

Verse 13–14: Blut und Gewissensreinigung

Die kultische Wirksamkeit des Tierbluts wird hier nicht geleugnet, sondern als typologisch begrenzte Realität verstanden. Doch das Blut Christi „reinigt das Gewissen von toten Werken“. Alexander Schmemann sieht darin die Wendung vom äußeren Ritus zur inneren Reinigung und somit zur wirklichen Gemeinschaft mit Gott (Schmemann, For the Life of the World, 1973, S. 105). Die Reinigung des Gewissens (syneidēsis) stellt eine anthropologisch-theologische Vertiefung der alttestamentlichen Kategorie der „Reinheit“ dar. N. T. Wright betont, dass es hier nicht um individuelle Innerlichkeit, sondern um eine partizipatorische Umkehrung des Sündenstatus geht (Wright, Resurrection, 2003, S. 575).

Vers 15: Mittler des Neuen Bundes

„Darum ist er der Mittler eines neuen Bundes.“ Diese Aussage verweist direkt auf Jeremia 31,31–34 und betont die Inkraftsetzung des Bundes durch den Tod des Mittlers. Scott Hahn hebt hervor, dass Christus durch seinen Opfertod nicht nur den Bund erneuert, sondern ihn endgültig und universal macht (Hahn, Kinship by Covenant, 2009, S. 513).

Verse 16–17: Testamentarische Logik und Bundestheologie

Hier wird ein semantisches Spiel mit dem Begriff diathēkē betrieben, der sowohl „Bund“ als auch „Testament“ bedeuten kann. Der Tod des „Testators“ macht den neuen Bund rechtskräftig. Craig Koester sieht hierin eine rhetorische Strategie, um die Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit des neuen Bundes zu betonen (Koester, Hebrews, 2001, S. 418).

Verse 18–22: Blut als Bundeszeichen – von Mose zu Christus

Der Rückgriff auf Exodus 24,8 („Siehe, das Blut des Bundes…“) zeigt, dass die Blutverwendung im Kult konstitutiv für jede Gottesbeziehung ist. Joseph Ratzinger merkt an, dass das „Blut des Bundes“ bereits im Sinai-Ereignis auf Christus hindeutet, der beim Abendmahl die gleiche Formel verwendet (vgl. Mt 26,28) (Ratzinger, Einführung, 2000, S. 146). Die Maxime „ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung“ (V. 22) bildet die hermeneutische Klammer zur gesamten alttestamentlichen Kultpraxis und verweist auf deren christologische Überbietung.

Theologische Schlüsselthemen

1. Christus als Hoherpriester des kommenden Heils

Im Gegensatz zu den levitischen Priestern tritt Christus nicht als Kultdiener eines irdischen Heiligtums auf, sondern als Hoherpriester der „zukünftigen Güter“. William Lane betont, dass es sich dabei um bereits gegenwärtige, aber unsichtbare Wirklichkeiten handelt, die in der Himmelfahrt Christi konkret eingelöst wurden (Lane, Hebrews, 1991, S. 240).

2. Himmlisches versus irdisches Heiligtum

Die kultische Geografie verschiebt sich radikal: Nicht der Tempel in Jerusalem, sondern das „Himmlische“ ist der wahre Ort der Versöhnung. John Behr deutet diesen Wechsel als Paradigmenbruch, in dem die Liturgie des Neuen Bundes nicht mehr ortsgebunden, sondern kosmisch und personal ist (Behr, The Mystery of Christ, 2004, S. 92).

3. Blut, Reinigung und Gewissen

Das Motiv der Reinigung durch Blut verbindet sich in einzigartiger Weise mit der Theologie des Gewissens. Nicht äußere Reinheit, sondern innere Umkehr steht im Zentrum. Das Blut Christi wirkt nicht rituell, sondern ontologisch: Es verändert den Status des Menschen vor Gott.

4. Der neue Bund im Blut Christi

Die Bezugnahme auf das Abendmahl (vgl. Mt 26,28; Lk 22,20) verdeutlicht, dass Christus selbst der Vollzug des Bundes ist. Die Versöhnung geschieht nicht neben Christus, sondern in ihm. Donald Guthrie spricht hier von einer „Christozentrik des Bundes“, die jede Form von Sakramentalismus überbietet und zugleich begründet (Guthrie, Hebrews, 1983, S. 198).

Theologische Leitlinien und Bedeutung

Die Verse Hebräer 9,11–22 markieren eine dramatische theologische Vertiefung: Die irdische Symbolik des alttestamentlichen Kults wird durch die einmalige Realität des Kreuzes überwunden. Christus tritt in das wahre Heiligtum ein, nicht mit fremdem Blut, sondern mit dem seinen. Der neue Bund ist kein symbolisches Ereignis, sondern die endgültige Realisierung der göttlichen Heilsverheißung. Das Opfer Christi ist „besser“, weil es:

einmalig und vollkommen ist (V. 12),

das Gewissen reinigt und nicht nur den Leib (V. 14),

einen ewigen Bund stiftet (V. 15),

und auf das himmlische Heiligtum zielt, nicht auf irdische Schatten (V. 11).

Für die Theologie des Neuen Bundes bedeutet dies: Die Gemeinschaft mit Gott ist nicht mehr rituell vermittelt, sondern in der Person Jesu Christi endgültig verwirklicht. Für die Kirche heute ist dieser Text ein Aufruf zur Rückbindung ihrer Liturgie an das Kreuzesgeschehen und zur existenziellen Aneignung der durch das Blut Christi bewirkten Versöhnung.

Rückblick und theologische Verortung

Der Hebräerbrief entfaltet in Kapitel 9 eine kultisch-theologische Bewegung von der irdischen Schattenwelt des alttestamentlichen Opferdienstes (V. 1–10) über die einzigartige Heilswirkung des Blutes Christi (V. 11–22) hin zur eschatologischen Vollendung im himmlischen Heiligtum (V. 23–28). Der inhaltliche Höhepunkt wird in den letzten sechs Versen erreicht: Christus tritt im wahren Heiligtum für die Gläubigen ein (V. 24), hat ein endgültiges, unwiederholbares Opfer dargebracht (V. 26) und wird ein zweites Mal erscheinen – nicht zur Sühne, sondern zur endgültigen Rettung (V. 28). Diese Passage stellt den Schlüssel für eine christologisch bestimmte Eschatologie dar und führt die kultisch-symbolischen Vorausbilder der alttestamentlichen Liturgie in ihre endgültige göttliche Erfüllung.

Vers-für-Vers-Auslegung von Hebräer 9,23–28

Vers 23: Reinigung der „himmlischen Dinge“

„So mussten also die Abbilder der himmlischen Dinge auf diese Weise gereinigt werden, die himmlischen Dinge selbst aber mit besseren Opfern als jenen.“

Diese Aussage wirkt zunächst paradox: Wieso sollten die „himmlischen Dinge“ der Reinigung bedürfen? Craig Koester sieht hier keinen Hinweis auf eine kultische „Verunreinigung“ des Himmels, sondern eine symbolische Entsprechung zur kultischen Reinheit, die durch das bessere Opfer Christi Realität wird (Koester, Hebrews, 2001, S. 426). F. F. Bruce betont, dass der himmlische Bereich durch die Sünde des Menschen betroffen ist, insofern als das Heiligtum nicht nur ein Raum, sondern ein Beziehungsraum zwischen Gott und Mensch ist (Bruce, Hebrews, 1990, S. 214). In dieser Sichtweise wird das Opfer Christi nicht nur als Heilsereignis für Menschen, sondern als kosmische Neuordnung verstanden – in Analogie zu Levitikus 16, wo am Versöhnungstag auch das Heiligtum selbst entsühnt wurde.

Vers 24: Christus im Himmel – der wahre Ort der Gottesbegegnung

„Denn nicht in ein mit Händen gemachtes Heiligtum, ein Abbild des wahren, ist Christus eingetreten, sondern in den Himmel selbst, um jetzt für uns vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen.“

Hier wird die zentrale Christologie des Hebräerbriefs verdichtet: Christus ist der einzige und vollkommene Hohepriester, der nicht mehr als Stellvertreter in einem irdischen Tempel dient, sondern als der Sohn im himmlischen Heiligtum selbst. Joseph Ratzinger spricht in diesem Zusammenhang von der „ontologischen Priesterschaft Christi“, die sich nicht aus Kultgesetz, sondern aus Seinsgemeinschaft mit dem Vater ergibt (Ratzinger, Einführung, 2000, S. 157). Diese Präsenz „vor dem Angesicht Gottes“ (emprosthen tou theou) weist zudem auf den fortwährenden Fürbittedienst Christi hin (vgl. Röm 8,34).

Verse 25–26: Keine Wiederholung – Einmaligkeit und Zielgerichtetheit des Opfers

„Nicht damit er sich oftmals opfere […] sonst hätte er oft leiden müssen von Grundlegung der Welt an. Nun aber ist er einmal offenbar geworden am Ende der Zeiten, um durch sein Opfer die Sünde aufzuheben.“

Der Kontrast zwischen dem wiederholten Opferdienst des alttestamentlichen Priesters und der Einmaligkeit des Christusopfers wird hier zugespitzt. John Owen kommentiert: „The repetition of sacrifices was the confession of their insufficiency; the single sacrifice of Christ declares its perfection“ (Owen, Works, Bd. 6, 1853, S. 460). Die Formulierung „am Ende der Zeiten“ (epi synteleia tōn aiōnōn) verbindet Christus‘ Opfer mit der eschatologischen Vollendung. N. T. Wright hebt hervor, dass das Kreuz nicht nur ein historisches Ereignis ist, sondern die „Krisis“ der Weltzeit – der Wendepunkt von Geschichte und Kosmos zugleich (Wright, Resurrection, 2003, S. 613).

Vers 27: Die anthropologische Grundstruktur – Tod und Gericht

„Und wie es dem Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht…“

Hier wird eine fundamentale anthropologische Gegebenheit ausgesprochen: der Tod ist kein zyklisches Ereignis, sondern ein einmaliger Übergang – gefolgt vom Gericht. Donald Guthrie betont, dass dieser Satz den eschatologischen Ernst christlicher Existenz unterstreicht: Es gibt keine zweite Möglichkeit – daher ist die Einmaligkeit des Christusopfers umso bedeutungsvoller (Guthrie, Hebrews, 1983, S. 199).

Vers 28: Die doppelte Parusie Christi

„… so ist auch Christus, nachdem er einmal geopfert worden ist, um die Sünden vieler zu tragen, zum zweiten Mal ohne Beziehung zur Sünde denen zu erscheinen, die auf ihn warten zur Rettung.“

Die doppelte Bewegung Christi wird hier klar: einmal zur Sühne – wieder zur Rettung. Diese heilsgeschichtliche Spannung zwischen bereits vollbrachter Erlösung und noch ausstehender Vollendung durchzieht das gesamte Neue Testament (vgl. Mt 24,30; 1 Thess 4,16; Offb 21,3–5). Alexander Schmemann sieht in dieser Verheißung die liturgische Grundstruktur des christlichen Glaubens: „Die Kirche lebt zwischen Gedächtnis und Erwartung – zwischen dem vollbrachten Opfer und dem kommenden Herrn“ (Schmemann, For the Life of the World, 1973, S. 131). Das „Erwarten zur Rettung“ (apekdechomenois sōtērian) ist kein passiver Zustand, sondern ein existenziell bestimmtes Leben aus der Hoffnung auf den Wiederkommenden.

Theologische Gesamtschau

1. Das Opfer Christi als einzigartig, ewig und vollkommen

Der Hebräerbrief betont kompromisslos die Einmaligkeit des Opfers Christi. Im Gegensatz zu den kultischen Wiederholungen des Alten Bundes steht ein vollendetes, ewiges Opfer, das Sünde nicht nur bedeckt, sondern endgültig hinwegnimmt. Das Kreuz ist keine Wiederholung, sondern die geschichtliche und ontologische Mitte der Erlösung.

2. Himmlisches Heiligtum – der neue Zugang zu Gott

Christus tritt nicht in ein Abbild, sondern in das wahre, himmlische Heiligtum ein – als Mittler und zugleich als der neue, lebendige Weg zu Gott (vgl. Hebr 10,19–22). In dieser Sicht wird die Trennung von Himmel und Erde überwunden: Der Zugang zu Gott ist real, persönlich und unmittelbar – durch Christus.

3. Die Zukunftserwartung der Gemeinde: Wiederkunft ohne Sünde

Der Glaube richtet sich nicht nur rückblickend auf Golgatha, sondern auch vorausblickend auf die Parusie. Christus wird wiederkommen – „ohne Beziehung zur Sünde“, also nicht mehr als Opferlamm, sondern als der Erhöhte, der Heil und Vollendung bringt (vgl. Offb 5,6–10). Für die Gemeinde ist dies Grund christlicher Hoffnung, Quelle liturgischer Erwartung und Antrieb gelebter Heiligung.

4. Bedeutung für Liturgie, Abendmahl und priesterliches Christusbild

Das Opfer Christi ist nicht nur theologisches Faktum, sondern liturgischer Ursprung. Die Eucharistie ist Gedächtnis dieses Opfers und zugleich Antizipation seiner Wiederkunft (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,26). Scott Hahn spricht hier vom „Bundesmahl am Sinai, das im Kreuz und im himmlischen Hochzeitsmahl vollendet wird“ (Hahn, Kinship by Covenant, 2009, S. 540). Christus bleibt der priesterliche Mittler – nicht als Wiederholung, sondern als bleibende Gegenwart im Himmel.

Literaturverzeichnis

Behr, John: The Mystery of Christ: Life in Death. Crestwood: St Vladimir’s Seminary Press, 2004.

Bruce, Frederick F.: The Epistle to the Hebrews. Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1990.

Guthrie, Donald: The Letter to the Hebrews: An Introduction and Commentary. Grand Rapids: Eerdmans, 1983.

Hahn, Scott: Kinship by Covenant: A Canonical Approach to the Fulfillment of God’s Saving Promises. New Haven: Yale University Press, 2009.

Koester, Craig R.: Hebrews: A New Translation with Introduction and Commentary (Anchor Yale Bible 36). New Haven: Yale University Press, 2001.

Lane, William L.: Hebrews 9–13 (Word Biblical Commentary 47B). Nashville: Thomas Nelson, 1991.

Owen, John: The Works of John Owen. Vol. 6: Exposition of the Epistle to the Hebrews. Edinburgh: Banner of Truth Trust, 1853.

Ratzinger, Joseph (Benedikt XVI): Einführung in das Christentum: Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Freiburg im Breisgau: Herder, 2000.

Schmemann, Alexander: For the Life of the World: Sacraments and Orthodoxy. Crestwood: St Vladimir’s Seminary Press, 1973.

Sproul, R. C.: Hebrews. Orlando: Reformation Trust Publishing, 2011.

Wright, N. T.: The Resurrection of the Son of God. Minneapolis: Fortress Press, 2003.



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