
„Was bedeutet es eigentlich, Geschichte zu schreiben?“ Diese Frage ist zentral, wenn es um die Beurteilung der Evangelien im Neuen Testament geht. Denn ihre Glaubwürdigkeit hängt eng damit zusammen, wie wir historische Berichterstattung im Kontext der Antike verstehen – nicht nach modernen Maßstäben juristischer Protokolltreue, sondern im Rahmen antiker Geschichtsschreibung.
Zwischen Präzision und Narration
In einem vielzitierten Werk wird u.a. auf die Historiker Thukydides (5. Jh. v. Chr.) und Polybios (2. Jh. v. Chr.) verwiesen. Sie zählen zu den genauesten und gewissenhaftesten Geschichtsschreibern der griechisch-römischen Antike. Polybios etwa schreibt:
„Die eigentliche Funktion der Geschichte ist es, in erster Linie die tatsächlich gesprochenen Worte zu entdecken, was auch immer sie gewesen sein mögen.“
(Polybios, Hist. 12.25b)
Damit wird deutlich: Antike Historiker wollten den Sinn und das Wesen eines Ereignisses erfassen, nicht unbedingt jedes Wort wortwörtlich wiedergeben. Paraphrasen und stilistische Verdichtungen waren erlaubt – ja, üblich. Wichtig war nicht juristische Präzision, sondern inhaltliche Treue.
Evangelien im historischen Kontext
Diese Einsicht hilft uns, die Evangelien realistisch zu bewerten. Die Evangelisten, insbesondere Lukas, schrieben nicht im Stil moderner Gerichtsreportagen. Lukas etwa nimmt Bezug auf Jesaja 53,7 („Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird…“) und interpretiert das Schweigen Jesu vor Pilatus nicht als wortwörtliche Stille, sondern als messianische Erfüllung – geistlich tief, nicht stenografisch exakt.
Trotzdem hält sich Lukas eng an das, was aus seiner Sicht zuverlässig überliefert war (vgl. Lk 1,1–4), wie auch sein Umgang mit Jesusworten am Kreuz zeigt (Lk 23,34). Hierbei sind leichte Abweichungen zwischen den Evangelien kein Hinweis auf Widersprüche, sondern Ausdruck der damaligen historischen Praxis.
Ein Blick zu Lucian von Samosata
Lucian von Samosata (2. Jh. n. Chr.) schrieb ein kurzes, aber bedeutendes Werk über die Regeln der antiken Geschichtsschreibung. Darin wird klar, was in der Antike als legitime Geschichtsschreibung galt – und was nicht. Seine Einsichten zeigen, dass es in der antiken Historiografie nicht um rein objektive Neutralität ging, sondern um Wahrheit im Sinne des Gesamtbildes, nicht zwingend im Sinn moderner Quellenkritik.
Apologetischer Wert dieser Einsichten
Für die christliche Apologetik ist dies von zentraler Bedeutung. Denn es zeigt: Die Evangelien sind nicht unzuverlässig, weil sie stilistisch unterschiedlich berichten, sondern sie sind im Rahmen der antiken Geschichtsschreibung durchaus glaubwürdig. Die Autoren verfolgten eine theologisch motivierte, aber geschichtlich verwurzelte Darstellung. Sie wollten die Botschaft Jesu getreu vermitteln – und haben das mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln getan.
Wer den Evangelien vorwirft, sie seien keine objektive Geschichtsschreibung im modernen Sinne, begeht den Fehler des anachronistischen Urteils: Er legt Maßstäbe des 21. Jahrhunderts an einen Text des 1. Jahrhunderts an.
Fazit
Die Evangelien stehen in einer langen Tradition antiker, ernst zu nehmender Geschichtsschreibung. Sie sind theologisch reflektiert, geistlich motiviert – und dennoch historisch zuverlässig. Wer das Evangelium liest, liest nicht Mythos, sondern Geschichte mit geistlicher Tiefe. Und das macht die Evangelien zu einzigartigen Zeugnissen – sowohl im Blick auf die Antike als auch auf das ewige Heil.
Literaturverzeichnis
Polybios. Histories, Buch 12, Abschnitt 25b. Übersetzung nach: Frank W. Walbank und Christian Habicht (Hrsg.), The Histories, Books 9–16, Loeb Classical Library 159. Cambridge: Harvard University Press, 2011.
Thukydides. Der Peloponnesische Krieg, insbesondere Buch I. Verschiedene Ausgaben, z.B. in der Übersetzung von Georg Peter Landmann, Stuttgart: Kröner Verlag.
Lucian von Samosata. Wie man Geschichte schreiben soll (Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν). In: Lucians Werke, hrsg. u. übers. v. C. Jacobitz, Leipzig: Teubner, 1896. Quintilian. Institutio Oratoria, Buch X, insbesondere 10.1.101. Übersetzung u.a. bei: Donald A. Russell (Hrsg.),
Quintilian: The Orator’s Education, Harvard University Press, 2001.
Metzger, Bruce M. A Textual Commentary on the Greek New Testament, 2nd ed., New York: United Bible Societies, 1994.
The Greek New Testament (Nestle-Aland, 28. Auflage; SBL Greek New Testament; Tyndale House Edition), diverse Ausgaben.
Die Bibel, Luther 2017 oder Elberfelder Bibel, zur Bezugnahme auf Lukas-Evangelium, Jesaja 53, Daniel und weitere alttestamentliche sowie neutestamentliche Stellen.
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