
Der letzte Atemzug – kein letztes Wort
Der Karfreitag steht wie ein stiller Obelisk in der Landschaft der Heilsgeschichte. Alles, was in der Schrift zuvor angekündigt wurde, kulminiert in einem einzigen, knappen, aber unendlich tiefen Satz:
„Es ist vollbracht.“ (Johannes 19,30)
Drei Worte im Deutschen. Im griechischen Urtext nur eines: Τετέλεσται (Tetélestai) – abgeschlossen, erfüllt, vollendet.
Keine Niederlage, kein resignierter Abbruch – sondern ein feierlicher, triumphaler Abschluss.
Die Herrlichkeit im Leid – Die Tiefe des Kreuzes
Johannes, der „Theologe der Herrlichkeit“, beschreibt Jesu Tod nicht primär als tragisches Ende, sondern als Erhöhung (Joh 12,32). Selbst im Moment der tiefsten Schwäche zeigt sich Jesu souveräne Stärke. William MacDonald betont, dass Jesus selbst den Moment seines Todes bestimmt: „Er hatte noch alles unter Kontrolle und übergab seinen Geist.“ (vgl. Joh 19,30).
In diesem Licht leuchtet das Kreuz nicht nur als Ort des Leidens, sondern als Thron der Vollendung.
Die prophetische Linie – Golgatha als Erfüllung
Die Kreuzigung Jesu ist kein isoliertes historisches Ereignis – sie ist eingebettet in eine Jahrtausende alte prophetische Linie. Die römischen Soldaten teilen sein Gewand, ohne zu wissen, dass sie Psalm 22,19 erfüllen. Wie MacDonald bemerkt, ist das kein Zufall: „Diese erfüllte Weissagung erinnert uns daran, dass dieses Buch das inspirierte Wort Gottes ist.“
Auch dass kein Bein Jesu gebrochen wurde (Joh 19,36) verweist auf 2. Mose 12,46 – das Gesetz über das Passahlamm. Christus, das wahre Lamm Gottes, erfüllt das Bild mit größter Genauigkeit.
Die Stimme des leidenden Gottes – Sacharja 12,10
Johannes 19,37 zitiert einen besonders kraftvollen Prophetenvers:
„Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ – Sacharja 12,10
Was diese Stelle so gewichtig macht, ist nicht nur die Vorhersage der Kreuzigung, sondern der Sprecher:
In Sacharja ist es Gott selbst, der sagt: „Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben.“
Damit verbindet sich in prophetischer Klarheit: Der Gekreuzigte ist nicht nur Gesandter – er ist Gott selbst in Menschengestalt.
Johannes Pflaum erkennt hierin die tiefste Dimension der Passion: „Es ist Jahwe selbst, den sie durchbohren.“
Diese prophetische Linie zieht sich weiter bis Offenbarung 1,7, wo erneut gesagt wird:
„Siehe, er kommt mit den Wolken, und sehen wird ihn jedes Auge, auch die, die ihn durchbohrt haben.“
Die Sühne – Der Fluch getragen
Calvin erklärt eindringlich, dass Jesus „hinausgeführt wurde vor die Tore der Stadt“, damit er unsere Unreinigkeit hinwegtrage (vgl. Hebr. 13,12). Wie das Opfertier des alten Bundes wird er zum Sündenbock, hinaus in die Gottesferne getragen.
Er wurde zum Fluch gemacht (Gal 3,13), zur Sünde (2Kor 5,21), „damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden.“
Die Dornenkrone ist nicht nur Spott, sondern Symbol: ein Zeichen des Fluchs, den die Sünde brachte (vgl. 1Mo 3,18). MacDonald schreibt: „Er trug den Fluch unserer Sünden, damit wir die Krone der Herrlichkeit empfangen können.“
Die Souveränität – Keine Opferrolle
Johannes betont Jesu Willensfreiheit: Er „übergab seinen Geist“. Dies ist mehr als Sterben – es ist ein bewusster, göttlicher Akt. Keener beschreibt diesen Moment als das „souveräne Finale der Inkarnation“.
MacDonald kommentiert: „Eine Handlungsweise, die keinem normalen Menschen möglich ist.“
George R. Knight sieht darin ein „Zeichen absoluter Souveränität selbst im Tod“. Der Tod war kein Unfall, sondern vollendeter Gehorsam (vgl. Phil 2,8).
Jesus ist kein Opfer der Umstände, sondern der Herr über Leben und Tod (Joh 10,18).
Selbst im Spott – das Purpurgewand, die Dornen, der Essig – offenbart sich eine höhere Wirklichkeit: der König, der seinen Thron nicht auf Gold, sondern auf Holz errichtet.
Das „Tetélestai“ – Ein Wort für die Ewigkeit
Das griechische τετέλεσται stammt vom Verb teleó – vollenden, erfüllen, abschließen. Es wurde zur Zeit Jesu auch auf Rechnungen gestempelt – als Zeichen: „Bezahlt in voller Höhe“. Im Recht: „Das Urteil ist vollzogen.“
Hier ist es die Siegelung des Erlösungswerks.
Calvin sagt schlicht: „Christus hat mit einem Opfer in Ewigkeit die Seinen vollendet.“ (vgl. Hebr. 10,14)
Udo Schnelle betont, dass mit diesem einen Wort „die ganze Inkarnation Jesu zusammengefasst“ wird – von der Krippe bis zum Kreuz.
Der Ruf der Versöhnung – Für uns gesprochen
„Es ist vollbracht“ bedeutet nicht nur, dass etwas abgeschlossen ist – sondern dass etwas für uns vollbracht wurde. Calvin mahnt: Wer die Ursache des Todes Christi und seine Folgen recht erwägt, für den wird das Wort vom Kreuz „ein köstliches Unterpfand der Weisheit und Gnade Gottes“.
– Der Schuldschein der Menschheit wurde gelöscht (Kol 2,14)
– Die Schlange wurde zertreten (1Mo 3,15)
– Der Zugang zu Gott ist wieder frei (Hebr 10,19–22)
Der Heidelberger Katechismus bekennt es schlicht:
„Mit seinem einzigen Opfer hat Christus unsere Erlösung vollkommen gemacht.“
Golgatha ist nicht nur Erinnerung – es ist Gegenwart. Kein theologisches Konzept, sondern ein göttlicher Tausch: Er nahm, was uns gehörte – damit wir empfangen, was ihm gehört.
In den Tod gesprochen – ins Leben gewirkt
In Johannes 19,30 mündet das Werk Jesu in einen Ruf, der durch Raum und Zeit widerhallt. Kein Wort menschlicher Verzweiflung, sondern göttlicher Triumph.
Was in Eden begann, wurde auf Golgatha vollendet.
Was im Blut des Lammes angedeutet war, wurde im Blut Christi Realität.
Was die Propheten erahnten, bezeugte der Gekreuzigte:
„Es ist vollbracht!“
Nicht ein Punkt. Ein Ruf.
Nicht das Ende. Der Anfang.
Ein Lob an den Retter
O Kreuz, du dunkler Weltenbaum,
du standst in Flammen, Blut und Traum,
und trugst den, der in Stille rang,
bis durch den Tod das Leben sprang.
O Lamm, das ohne Makel war,
verwundet, mild, doch wunderbar –
du trugst den Dorn, den Spott, das Leid,
und machtest uns vor Gott bereit.
Du warst der Eine, ganz allein,
der trank den Kelch, den bittren Wein,
und rief – als sich die Zeit verneigt –
„Es ist vollbracht!“ – das Herz sich neigt.
O Heiland, Retter, Menschensohn,
von Dornen trugst du dir die Kron’.
Doch nun erhöht, durch Leid gekrönt,
sitzt du, wo Herrlichkeit versöhnt.
Wer will dich fassen, Herr des Lichts,
der stirbt – und doch zerbricht er nichts?
Du lehrst uns glauben, treu und sacht:
Die Liebe lebt. Es ist vollbracht.
Literaturverzeichnis
William MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, 7. Auflage, CLV Verlag, Bielefeld, 2018.
Johannes Calvin, Das Evangelium des Johannes, hrsg. v. Ramon Gil Kukula, übers. v. August Wilhelm Fürer, Logos Bible Software, 2024.
D. A. Carson, The Gospel According to John, Eerdmans, 1991.
Craig S. Keener, The Gospel of John: A Commentary, Baker Academic, 2003.
Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, Evangelische Verlagsanstalt, 2009.
Adolf Schlatter, Das Evangelium nach Johannes: Ausgelegt für Bibelleser, 2. Auflage, Berlin: EVA, 1954.
Jon Paulien, Das Johannes-Evangelium, Advent-Verlag, 2000.
George R. Knight, Das Markusevangelium, Advent-Verlag, 2005.
Zacharias Ursinus & Caspar Olevian, Der Heidelberger Katechismus, in: Bekenntnisschriften des Protestantismus, Faithlife, 2018.
Fritz Grünzweig, Offenbarung des Johannes, Hänssler, 2007.
Johannes Pflaum, Ist Jesus Christus Gott?, EBTC, 2018.
Hinterlasse einen Kommentar