
Der dramatische Höhepunkt des Johannesevangeliums
Der Moment, in dem der zweifelnde Thomas dem auferstandenen Christus begegnet, stellt nicht nur einen literarischen Höhepunkt im Johannesevangelium dar, sondern auch einen der deutlichsten christologischen Wendepunkte im gesamten Neuen Testament. Seine Worte in Johannes 20,28: „Mein Herr und mein Gott!“ (griech. ho Kyrios mou kai ho Theos mou) enthalten eine Aussage von solcher Dichte, dass sie bis heute exegetisch, dogmatisch und apologetisch analysiert wird.
Dabei erhebt sich eine zentrale Frage: Spricht Thomas diese Worte als spontane Anbetung Jesu – oder handelt es sich um ein Ausruf reiner Verwunderung? Die Antwort darauf ist entscheidend, da sie direkt auf die Göttlichkeit Christi verweist – und damit auf das Zentrum christlichen Glaubens.
Der griechische Urtext: Eine syntaktische und semantische Untersuchung
Der griechische Wortlaut lautet:
Ὁ Κύριός μου καὶ ὁ Θεός μου!
(ho Kyrios mou kai ho Theos mou!)
Bereits die Struktur ist von Bedeutung: Beide Nomen, Kyrios (Herr) und Theos (Gott), sind jeweils mit einem bestimmten Artikel (ho) versehen und mit dem Possessivpronomen mou (mein) versehen. Der Satz enthält keine Interjektion, keinen Hinweis auf einen allgemeinen Ausruf, sondern ist grammatisch eine doppelte direkte Anrede, wie sie in der klassischen griechischen Sprache üblich ist.
Wie D. A. Carson betont, lässt sich die Form nicht als bloßer Ausruf interpretieren, sondern verweist auf eine gezielte persönliche Aussage in Richtung Jesu. Auch Raymond E. Brown kommt in seinem umfassenden Kommentar zu dem Schluss: „Thomas’ Aussage ist nicht reflexhaft, sondern bewusst. Es handelt sich um ein Bekenntnis.“
Die theologische Tragweite: Thomas als Sprachrohr des Glaubens
Thomas, der zunächst dem Zeugnis der anderen Jünger misstraute (Joh 20,24–25), wird durch die leibhaftige Erscheinung Jesu zur Umkehr geführt. Er ist damit eine exemplarische Figur: Der Zweifelnde wird zum Bekenner. Doch sein Bekenntnis geht über die einfache Anerkennung der Auferstehung hinaus. Er erkennt in dem Auferstandenen den Kyrios – den Herrn, wie schon zuvor von den Jüngern bezeugt (vgl. Joh 13,13) – und nennt ihn Theos, also Gott.
Diese Verbindung ist für Johannes nicht zufällig. Der Evangelist führt hier die Theologie des gesamten Evangeliums zusammen: Was in Johannes 1,1 begonnen hat („und das Wort war Gott“), wird in Johannes 20,28 vollends zur Bekenntnisformulierung eines der engsten Jünger. Der Bogen vom Prolog zur Epiphanie ist geschlossen.
Gegenstimmen und Einwände
Einige Interpreten – besonders aus unitarischer oder islamischer Perspektive – behaupten, Thomas habe hier gar nicht Jesus gemeint, sondern lediglich Gott, den Vater, angerufen. Doch dieser Einwand scheitert an der Syntax und der narrativen Struktur. Es gibt im Text keinerlei Anzeichen dafür, dass Thomas seinen Blick oder seine Anrede von Jesus abwendet. Im Gegenteil: Jesus antwortet direkt auf Thomas’ Worte (Vers 29), ohne sie zu korrigieren.
Auch Rudolf Bultmann versuchte, die Worte als spätere redaktionelle Einfügung zu interpretieren, um eine höhere Christologie nachträglich einzuführen. Doch diese These hat in der modernen Forschung kaum Bestand. Sowohl Craig Keener als auch Richard Bauckham vertreten die Auffassung, dass dieses Bekenntnis historisch plausibel und theologisch authentisch sei – eingebettet in die johanneische Theologie, aber tief verwurzelt im apostolischen Zeugnis.
Jesu Reaktion: Zustimmung, nicht Zurechtweisung
In Vers 29 sagt Jesus: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Diese Reaktion wird von manchen als Tadel verstanden. Doch wie Andreas J. Köstenberger betont, handelt es sich hier eher um eine Bestätigung des Glaubens Thomas mit gleichzeitiger Öffnung auf die zukünftige Kirche: ein Lob für den Glauben derer, die glauben werden, ohne zu sehen.
Jesus hätte – wenn Thomas falsch gesprochen hätte – diesen schwerwiegenden Ausdruck sofort korrigiert. Seine Zustimmung ist deshalb umso bemerkenswerter.
Die Relevanz für die Christologie
Die christologische Bedeutung dieser Szene ist kaum zu überschätzen. Während die synoptischen Evangelien Jesus häufig „Herr“ nennen, ist das direkte Bekenntnis „Gott“ dort selten zu finden. Johannes hingegen bringt es auf den Punkt. Wie Larry Hurtado zeigt, nimmt Johannes an dieser Stelle vorweg, was die Urgemeinde bald darauf zu formulieren beginnt: eine in das Gebet und die Anbetung integrierte Christologie.
Thomas spricht Jesus nicht als ein Geschöpf Gottes an, sondern in der Sprache der Verehrung, die im jüdischen Kontext einzig Gott vorbehalten ist. Diese Verehrung ist, wie Richard Bauckham schreibt, ein Schlüsselindikator für das frühe Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu.
Fazit
Johannes 20,28–29 ist weit mehr als das Ende einer Erscheinungserzählung. Es ist die Zusammenführung der johanneischen Theologie, des Zeugnisses der Jünger und des Glaubensbekenntnisses der Kirche. Thomas, der zuerst zögerte, erkennt in dem Auferstandenen den lebendigen Gott. Und Jesus selbst bestätigt diesen Glauben.
In dieser Szene gipfelt das Zeugnis des Johannesevangeliums: Nicht nur der Sohn Davids, nicht nur der Messias – sondern der Herr und Gott selbst steht vor Thomas.
Literaturverzeichnis
Raymond E. Brown, The Gospel According to John, Anchor Bible Series, Vol. 29, Yale University Press, 1966.
Craig S. Keener, The Gospel of John: A Commentary, Vol. 2, Baker Academic, 2003.
D. A. Carson, The Gospel According to John, Eerdmans, 1991.
Richard Bauckham, Jesus and the God of Israel, Eerdmans, 2008.
Andreas J. Köstenberger, John, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, 2004.
Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ: Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Eerdmans, 2003.
Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1941.
Hinterlasse einen Kommentar