Der Sabbat im Kornfeld – Gesetzesbruch oder geistliche Freiheit?

Eine apologetische Einordnung von Markus 2,23–28 und Lukas 6,1–5

Die Szene im Kornfeld zählt zu den zentralen Auseinandersetzungen Jesu mit den religiösen Führern seiner Zeit. Als die Jünger am Sabbat Ähren pflücken, werfen die Pharisäer ihnen Gesetzesbruch vor. Jesus aber verteidigt sie – mit Worten, die seine göttliche Autorität und das Wesen des Gesetzes zugleich offenbaren. Für Kritiker erscheint diese Begebenheit als Beleg dafür, dass Jesus selbst das Gesetz übertritt oder zumindest relativiert. Doch ist das wirklich so? Die Auslegung durch Adolf Schlatter und William MacDonald eröffnet eine tiefere Sichtweise, die sowohl dem jüdischen Gesetz als auch dem messianischen Anspruch Jesu gerecht wird.

1. Die Berufung auf David – Barmherzigkeit über Kultgesetz

Jesus beginnt seine Verteidigung nicht mit einer theologischen Abhandlung, sondern mit einem Rückgriff auf die Geschichte Davids (1. Samuel 21,2–7), der in einer Notsituation die Schaubrote aß – etwas, das eigentlich nur den Priestern erlaubt war.

Adolf Schlatter schreibt:

„Den Bruch des Sabbats, den die Jünger im Kornfeld begingen, rechtfertigt Jesus […] durch die Berufung auf David, der die Schaubrote aß.“

(Schlatter, S. 183)

Diese Parallele ist mehr als nur ein Argument: Sie zeigt, dass Jesus das Gesetz nicht gegen den Menschen, sondern für den Menschen versteht. Wo lebenspraktische Not besteht, darf das Gesetz nicht gegen die Barmherzigkeit ausgespielt werden. Diese Argumentation entspricht ganz dem, was Gott selbst durch Hosea sagte:

„Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.“ (Hosea 6,6)

Jesus stellt somit die Barmherzigkeit als höheren Auslegungsmaßstab über rituelle Vorschriften.

2. Der Menschensohn ist Herr des Sabbats – göttliche Autorität

Jesus geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur relativiert er die Anklage der Pharisäer – er erhebt auch einen Anspruch, der nur als messianisch verstanden werden kann:

„Der Menschensohn ist Herr des Sabbats.“ (Markus 2,28; Lukas 6,5)

William MacDonald kommentiert diese Aussage so:

„Er war derjenige, der das Gesetz gegeben hatte, und niemand war qualifizierter als er, seine wahre geistliche Bedeutung zu erkennen und es von Missverständnissen zu befreien.“

(MacDonald, S. 248)

Das bedeutet: Jesus beansprucht nicht nur Deutungshoheit, sondern Schöpferhoheit über das Gesetz. Der Sabbat – von Gott als Ruhe- und Gnadentag eingesetzt – gehört dem Menschensohn, weil er ihn als Herr der Schöpfung und des Gesetzes gegeben hat. Damit stellt sich Jesus selbst in die Rolle Gottes – ein Anspruch, der entweder Blasphemie oder Wahrheit ist.

3. Das Schweigen des Lukas – eine Frage der Gemeindeentwicklung

Adolf Schlatter weist in seinem Kommentar auf einen interessanten redaktionellen Unterschied hin: Während Markus zusätzlich betont, dass „der Sabbat um des Menschen willen gemacht ist“, lässt Lukas diese Aussage weg.

Schlatter erklärt:

„Die Christenheit, für die Lukas schrieb, […] hielt den Ruhetag des Gesetzes nicht mehr und […] war nicht mehr von der Frage bewegt, welches die rechte Ehrung und Feier des Sabbats sei.“

(Schlatter, S. 184)

Diese Beobachtung zeigt: Lukas richtet sich an eine Gemeinde, die bereits in der Freiheit vom Gesetz lebt, wie Paulus sie in seinen Briefen beschreibt (vgl. Gal 4,10; Röm 14,5). Der Sabbat als jüdisches Gebot ist für die neutestamentliche Gemeinde nicht mehr bindend, und Lukas verstärkt diesen Wandel durch die bewusste Auswahl dessen, was er überliefert.

4. Die apologetische Kraft der Szene

Kritiker werfen Jesus und seinen Jüngern hier Gesetzesbruch vor. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich:

Jesus stellt sich nicht über das Gesetz, sondern offenbart dessen wahre geistliche Bedeutung. Die Jünger handeln nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus Alltagssituation, die Jesus durch Schrift und Prinzipien rechtfertigt. Die Reaktion Jesu offenbart nicht nur sein Wissen, sondern seine Autorität – er ist der Herr des Gesetzes. Der Übergang von Sabbatheiligung zu Sonntagsfeier ist bereits im Neuen Testament erkennbar und wird durch Lukas’ Redaktion bezeugt.

Die Szene im Kornfeld steht also nicht im Widerspruch zum Gesetz, sondern offenbart die tiefe Einheit von Gesetz und Evangelium, verstanden im Licht des kommenden Messias.

Fazit

Diese Begebenheit lädt dazu ein, das Gesetz nicht als starre Regel, sondern als Ausdruck von Gottes Charakter und Willen zu begreifen – einen Willen, der durch Jesus vollendet, nicht verworfen wurde. Die Berufung auf David, die Autorität des Menschensohns und die Entwicklung der Gemeinde zeigen:

Der Sabbat war nie Selbstzweck – er war ein Vorgeschmack auf die Ruhe, die Christus selbst ist.



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